„Offener Brief an unsere Schwestern“ von Ayşe Harman

Eine Schreibwerkstatt des MigrantinnenVerein Berlin e. V.

DaMigra
6 min readFeb 8, 2021

Ins Deutsche übersetzt von DaMigra e.V.

Hallo liebe Schwester,

ich hoffe, dass meine Schwestern inspirieren würde, was ich durchmachen musste. Ich wurde in Deutschland geboren und wuchs hier auf. In einer feudalen, großen Familie. Ich erlebte auch die Schwierigkeiten, in einer traditionellen, autoritären Familie aufzuwachsen. Die Regeln, denen Mädchen gehorchen mussten, waren anders als die Regeln für Jungen. Ich war schon als Kind anfällig dafür, diese Regeln zu brechen. Zudem führte ich mehrmals auch meinen Bruder in Versuchung und versuchte ihn auf meine Seite zu ziehen. Deshalb wurde ich sehr oft bestraft. Ich hatte eine rebellische Seele. Es änderte sich nichts daran, als ich größer wurde und ein Teenager war. Ich konnte Ungerechtigkeit nicht ertragen. Ich stand immer auf der Seite derer, die der Ungerechtigkeit ausgesetzt waren. Ich war besonders sensibel gegenüber Gewalt. In unserem Haus gab es zwar keine Schläge oder zumindest habe ich sie nie mitbekommen. Es gab jedoch eine strenge Ordnung der Hierarchie von Männern zu Frauen*. Diese Ordnung galt auch innerhalb der beiden Geschlechter. Ich war wie ein zerbrochenes Teil eines gut funktionierenden Zahnrades. Diese Ordnung blieb jedes Mal hängen, wenn es um mich ging. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich die Jüngste in der Familie war oder daran, dass die ganze Familie die Zuneigung meines Großvaters zu mir akzeptierte, aber ich wusste, dass ich toleriert wurde. Meine rebellische Seite zeigte sich mehr nach außen. Wenn ich auf der Straße oder anderswo jemanden sah, der Gewalt ausgesetzt war, half ich der Person, ohne zu zögern, egal ob ich in Schwierigkeiten geraten würde. Als ich eine erwachsene Frau* wurde, änderte sich das ein wenig. Ich zögerte einzuspringen, obwohl sich meine Gedanken nicht änderten. Was mein Selbstvertrauen zerstörte, war die Gewalt meines Mannes. Dem ausgesetzt zu sein, verletzte mich so tiefst, dass ich mich zurückzog. Wie sollte ich jemandem anderen helfen, während ich mir selbst nicht helfen konnte? Meine Geschichte begann eigentlich mit dieser Frage. Ich suchte nach einer Lösung für mein eigenes Problem. Unsere war eine Liebesheirat. Wir heirateten beide jung. Wir waren zwar beide etwas unerfahren, aber aufgeregt, ein gemeinsames Leben zu führen. Mein Mann hatte eine Berufsausbildung. Er studierte nicht. Er war ein Techniker. Ich war eine sehr gute Schülerin* in der Schule. Obwohl meine Familie konservativ war, ermutigten sie mich immer, meine Bildung fortzusetzen. Es war meine Entscheidung, das Studium abzubrechen und zu heiraten. Zuerst schien das Eheleben Spaß zu machen. Wir gingen aus, ich kochte und kümmerte mich um den Haushalt. Er arbeitete. Es machte mir nicht aus, ihn abends zu verpflegen, als er müde nach Hause kam. Aber die Ehe ist kein Vater-Mutter-Kind-Spiel. Mein Mann versetzte sich immer mehr in eine klassische Ehemannrolle. Dinge, die ich früher gerne tat, wurden zu meinen Pflichten. Er fing sogar an, wütend auf mich zu werden, wenn etwas zu Hause fehlte. Ich konnte die sich nähernde Gefahr nicht sehen, oder vielleicht wollte ich sie nicht sehen. Die Art und Weise, wie er sich veränderte, beunruhigte mich. Ich vermisste meine Uni. Ich begann zu bereuen, dass ich sie abgebrochen habe. Ich beschloss, mich wieder einzuschreiben, aber mein Mann war sehr stark dagegen. Er sagte mir, ich solle meine Zeit in nützlichere Dinge investieren. Er wollte Kinder. Er traf die Entscheidung allein, ohne mich zu fragen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht dafür bereit war. Ich nahm weiterhin meine Antibabypillen ein, ohne es ihm zu sagen. Er wurde nach einer Weile misstrauisch. Es geschah das, wovor ich Angst hatte. Er fand in meinen Privatsachen die Pillen. Dass er meine Sachen durchwühlte und mir die Pillen wegnahm, entsetzte mich. Ich entfernte mich immer mehr von ihm. Der junge Mann, den ich liebte und heiratete, war weg. Stattdessen kam ein Fremder. Auch ich war nicht mutig genug, ihn zu verlassen. Wäre ich ins Familienhaus zurückgekehrt, hätte ich meiner Familie ein Druckmittel aufgrund meiner falschen Entscheidung gegeben. Sie würden mir unter die Nase reiben, dass sie mir nicht mehr vertrauen sollten. Außerdem kannte ich die Schwierigkeiten von einer “Geschiedene”, aus den Beispielen in meiner Familie. Man wird nicht mehr als Single bezeichnet, sondern als Geschiedene. Die Regeln der Familie und der Gesellschaft funktionieren für Geschiedene strenger. Ich dachte mir, es wäre für mich einfacher gewesen, einige Dinge in meiner Ehe zu regeln, als dieses Risiko einzugehen. Glaubst du, dass es so passierte? Nein. Warum verkriechen wir uns in vier Wänden unter der Dominanz eines anderen? Warum sagen wir entweder hier oder da? Warum bauen wir unsere eigene Burg nicht selbst?

Ich war Mutter von zwei Kindern, als ich beschloss, mich zu trennen. Es wurde mir auch zuteil, geschlagen zu werden. Aus dem Mädchen, das sich nach außen gegen Gewalt wehrte, wurde eine erwachsene Frau*, die von ihrem Mann verprügelt wurde. Nein, es ist falsch, “geworden” zu sagen. Vielleicht, wenn ich akzeptiert hätte, was mir widerfuhr oder damit zu leben. Aber jetzt hatte ich auch zwei Kinder, für die ich ebenfalls kämpfen musste. Ich musste diesen Kampf überleben und aus diesem Kampf stärker herauskommen. Ich begann, die Mauern meiner eigenen Burg aufzubauen. und zog in eine andere Wohnung ein. Wenn man den Mut dazu hat, haben andere keine andere Wahl, als es zu akzeptieren.

Ich beschloss, mein Studium nachzuholen, nachdem ich für meine Kinder eine Ordnung schaffen konnte. Ich wählte ein Studiengang im soziologischen Bereich. Ich bereitete mich auf die Prüfung zu Hause vor. Es kam langsam die Zeit, die Kinder von der Schule abzuholen. Es klingelte an der Tür. Meine Mutter, meine Großtanten und meine jüngere Schwägerin, die Frau* meines Onkels standen mit viel Essen und Geschenken vor mir. Meine Mutter sagte mir, ich solle die Kinder abholen, und sie werden in der Küche etwas kochen. Ich wusste genau, was das bedeutete. Sie würden in meinem Kampf auf meiner Seite stehen. Plötzlich spürte ich die Stärke einer großen Armee hinter mir.

So geschah es, meine liebe Schwester. Gebt nie auf. Wenn ihr mutig seid, macht ihr die anderen auch mutig. Und zu meinem Ex-Mannes… Natürlich ist er der Vater meiner Kinder. Aber das ist alles. Wir sind Menschen aus anderen Welten. Ich realisierte das, auch wenn es spät war. Jetzt arbeite ich als Lehrkraft in Teilzeit an der Universität, an der ich mein Studium abschloss. Und ich kämpfe weiter für betroffene Frauen*.

Ayse Harman

Kontext

Im Rahmen des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November schrieb der MigrantinnenVerein Berlin e. V. Briefe an seine Schwestern.

Wir machen häusliche, physische, sexuelle, wirtschaftliche, psychische und digitale Gewalt gegen Frauen* sichtbar, indem wir die Auswirkungen der patriarchalischen Gesellschaft, der neoliberalen Wirtschaft und der rassistischen Diskriminierung von Frauen* aufzeigen. Wenn wir über unsere Erfahrungen mit Gewalt und unseren Kampf gegen Gewalt sprechen. Es verstärkt unsere Verbindung der Schwesternschaft, über unsere Erfahrungen mit Gewalt und gegen Gewalt zu sprechen. In diesem Zusammenhang trafen sich Frauen* am 14. und 21. November in einem von DaMigra e. V. organisierten Online-Workshop und schrieben Geschichten über ihren Kampf gegen Gewalt an Frauen*.

Der erste Workshopstag begann mit der Präsentation von DaMigra-Projektreferentin* Elif Cigdem Artan über die Istanbul-Konvention und die in der Konvention definierten Arten von Gewalt an Frauen*. In der anschließenden Diskussionsrunde, stellten Frauen* fest, dass physische Gewalt zwar zuerst in den Sinn kommt, wenn es von Gewalt gegen Frauen* die Rede ist , aber wirtschaftliche, psychische oder häusliche Gewalt nicht ausreichend angesprochen wird. Der Workshop setzte sich mit der Präsentation von Dr. Zerrin Akdenizli zum Thema Schreiben fort, während die Frauen* die Geschichten, die sie schreiben wollten, unter sich aufteilten. Der Workshop endete nach gemeinsamen Diskussionen über den Umgang mit dem Kampf gegen Gewalt an Frauen*.

Zwischen dem 14. und 21. November schrieben Frauen* mit Hingabe und harter Arbeit den ersten Entwurf ihrer Geschichten. Diese unter Dr. Zerrin Akdenizlis Redaktion neu arrangierten Entwürfe wurden beim zweiten Workshoptermin laut vorgelesen und die zur Veröffentlichung vorgenommenen Redaktionen wurden gemeinsam diskutiert.

Die Briefe, die von den Teilnehmerinnen* vom MigrantinnenVerein Berlin e. V. geschrieben wurden, sind auf der Webseite www.migrantinnen.net veröffentlicht. Jetzt sind sie auch als Booklet verfügbar.

Bitte geben wir die Briefe von Hand zu Hand weiter.

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DaMigra

Der Dachverband der Migrantinnenorganisationen. Für Chancengerechtigkeit, Gleichberechtigung, Gleichstellung von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte.